Tanz im August | Marlene Monteiro Freitas © Jose Caldeira
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Tanz im August | Rückblick auf das Tanzfest - Marlene Monteiro Freitas: "MAL – Embriaguez Divina" und Resümee

Mit dem Gastspiel der neuen Choreografie von Marlene Monteiro Freitas "MAL - Embriaguez Divina" ging am Samstag der Tanz im August, das Internationale Tanzfestival Berlin, zu Ende. 19 Tanzproduktionen, darunter etliche Uraufführungen und Deutschlandpremieren, waren in den letzten zweieinhalb Wochen beim Tanzfest zu sehen, das erste unter der Leitung von Kurator Ricardo Carmona.

Eine Groteske gibt es also zum Abschluss von Tanz im August, eine bitter-schwarzhumorige Comedy-Farce von Marlene Monteiro Freitas, ein Stück, das in seiner Formsprache, als Theaterinszenierung mit rein körpersprachlichem Ausdruck, nicht so recht in die diesjährige Ausgabe des ausdrücklich am Tanz orientierten Festivals einfügen will. Inhaltlich jedoch passt dieses Stück über das Böse als Symptom einer kranken Gesellschaft, denn die grundsätzliche Befragung des Menschseins an sich, hat sich als eines der Hauptthemen des Festivals erwiesen.

Faso Danse Théâtre, Serge Aimé Coulibaly: C la vie © Sophie Deiss
Faso Danse Théâtre, Serge Aimé Coulibaly: "C la vie" | Bild: Sophie Deiss

Stücke mit ausdrücklich politischer Ausrichtung

Damit ist eine Idee von Kurator Ricardo Carmona aufgegangen: vornehmlich Stücke mit ausdrücklich politischer Ausrichtung und Botschaft einzuladen.

Etwa Serge Aime Coulibaly aus Burkina Faso, dessen Stück "C la vie" die Frage stellt, warum der Mensch überhaupt weitermachen soll mit seinem Leben. Warum nicht aufgeben oder sich in Verrücktheit flüchten? In Anbetracht der politischen und sozialen Bedingungen in Burkina Faso eine nachvollziehbare Frage.

Oder bei Nadia Beugré, die mit "Prophetique (on est déjà ne.es)" das Leben von Transgender-Menschen in Abidjan, der Stadt in der Elfenbeinküste thematisiert. Ein Leben im unausgesetzten Kampf um Selbstbestimmung gegen eine Gesellschaft, die Transsexualität ebenso ablehnt und tabuisiert wie Homosexualität.

Tanz im August: Marco da Silva Ferreira - "CARCAÇA" © José Caldeira
Marco da Silva Ferreira: "CARCAÇA" | Bild: José Caldeira

Marco da Silva Ferreira schließlich hat mit seinem Stück "Carcaca" neben anderem auch in die Vergangenheit Portugals geblickt, in die Zeit des Faschismus, hat das Klassenkampf-Lied einer Arbeiterin singen lassen, die über Ausbeutung klagt und von einer "wahren Volksdemokratie" träumt, ohne Bürgertum und angeführt allein von Arbeitern. Ein zwar naiver Kommunismus-Wunschtraum, aber deutliche Kritik am gegenwärtigen Zustand der sozial ungerechten westlichen Demokratien.

Rassismus- und Neokolonialismus-Diskurse

Dem Zeitgeist entsprechend waren auch Stücke zu Rassismus- und Neokolonialismus-Diskursen eingeladen. Etwa "Toi, moi, Tituba" von Dorothée Munyaneza, die in ihrem Solo in einer Art Beschwörungs-Tanz-Ritual die Erinnerung an Tituba wachgerufen hat und mit der Erinnerung an die in den Hexenprozessen von Salem angeklagte Frau auch die Versklavung und Entrechtung von Menschen, die bis heute andauert. Ein Stück zwar zu klein und abseitig für das Internationale Tanzfest, aber dank Munyaneza auch mit einer bestechenden Sängerin und Performerin.

Tanz im August: Trajal Harrell - "The Romeo" © Orpheas Emirzas / Schauspielhaus Zürich
Trajal Harrell: "The Romeo" | Bild: Orpheas Emirzas / Schauspielhaus Zürich

Tanz als Kunstform im Mittelpunkt

Der Tanz als Kunstform stand jedoch in der Mehrheit der eingeladenen Stücke im Vordergrund. Trajal Harrell etwa hat in "The Romeo" mit seinem Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble sogar die betont kuriose Behauptung aufgestellt, sein "Romeo" sei ein seit Jahrtausenden bekannter Tanz, dessen Geschichte er nur wieder ausgraben würde. Bei Harrell nicht überraschend und in diesem Stück nicht wirklich überzeugend, bestand dieser Tanz allerdings hauptsächlich aus Voguing-Elementen und Catwalk-Auftritten seiner Performer in geschätzt 100 Kostümen, bestand aus viel Wunderlichkeit und Sentimentalität.

Tanz im August: Anne Teresa De Keersmaeker u.a. - "EXIT ABOVE after the tempest" © Anne Van Aerschot
Anne Teresa De Keersmaeker: "EXIT ABOVE after the tempest" | Bild: Anne Van Aerschot

Anne Teresa de Keersmaeker

Zu den Überraschungen und Höhepunkten des Festivals gehörte zum einen das neue Stück "EXIT ABOVE after the tempest" von Anne Teresa de Keersmaeker, die sich erstaunlich eindeutig von ihrer streng redundanten Ästhetik der komplexen choreographischen Muster und Ordnungen in Wiederholungen und Variationen verabschiedet und eine überbordende Vielfalt an Tanzformen, Motiven, Szenen entwickelt hat. Ein brillantes Stück, das allerdings auch den Eindruck einer tiefen Ratlosigkeit hinterlassen hat, als würde de Keersmaeker fragen, was der zeitgenössische Tanz in Anbetracht des Zustands unserer Welt noch sagen oder erzählen könne.

Überraschung Kat Valastur

Eine andere Überraschung war, wie großartig das neue Stück der Berliner Choreografin Kat Valastur ist. Ihr "Strong-Born" ist nichts anderes als die Neuerfindung des Tanz-Rituals aus feministischer Perspektive, die Neuerfindung eines zugleich archaischen und modernen Tempeltanzes mit drei Performerinnen als "Stark-Geborenen", von denen keine für ein Jungfrauenopfer zur Verfügung stünde. Der griechische Iphigenie-Mythos war eine der Inspirationsquellen von Kat Valastur für ihr Stück, das dank seiner Schönheit in Harmonie und dank der Vielfalt der Bewegungsformen sicherlich noch für Furore sorgen wird.

Unterhaltungs-Show-Spektakel

Auch für die Unterhaltungshungrigen war beim Tanz im August in diesem Jahr etwas dabei: "Age of Content", das neue Stück des Ballet national de Marseille (La) Horde. Ein Unterhaltungs-Show-Spektakel, in dem fröhlich und munter aus Filmen und Musicals, aus Computerspielen und YouTube- wie Tiktok-Filmchen zitiert wird. Das rauschhafte Finale war sogar eine Aneinanderreihung von Tanzstil-Zitaten in extrem hohem Tempo. Ein mitreißendes Stück, das allerdings auch in einzelne Kapitel zerfällt und das die Frage aufwirft, ob es eine Kritik an der Kommerzialisierung der Kunstform Tanz ist oder Teil davon.

Zitieren und Kompilieren

Damit wäre auch eine Auffälligkeit bei der Mehrheit der Produktionen bei dieser Tanzfestival-Ausgabe angesprochen. In sehr vielen Stücken werden andere Tanzstile, vornehmlich aus dem Urban Dance, zitiert und kopiert und kompiliert. Und zu selten ist dabei ein eigener Tanzstil entstanden, eine eigene Formsprache, die über das Zitieren hinausgeht. Es scheint, als würde das den Choreografinnen und Choreografen derzeit schon genügen, als wäre die Entwicklung einer ureigenen Tanzsprache nicht mehr Ziel und Wunsch. Vielleicht ist auch dies ein Ausdruck unserer Zeit der Überforderung, der Ratlosigkeit und Utopielosigkeit.

Schwerpunkt Ökologie

Eine Zeit, in der es auch verpflichtend ist, sich zu Fragen der Ökologie zu verhalten. Das hat das Team der Festivalleitung in der Organisation getan, etwa in der Verminderung des Reiseaufwands oder auch in der Weigerung, Programmzettel zu drucken. Und das hat sich im Programm gespiegelt, etwa bei einem der Schwerpunkte des Festivals: "Tanz und Ökologie vernetzen". Berliner Tanzkünstlerinnen und -künstler waren dazu eingeladen, in drei Parcours durch Berliner Stadtparks Kurz-Choreographien zu zeigen, die das Verhältnis von Mensch und Natur in den Blick nehmen sollten. Leider war der erste Parcours mit acht Stücken im Park am Gleisdreieck derart überrannt, dass er zu einem Massenevent geworden ist, dass ein Sich-Einlassen auf die Inhalte und deren Umsetzung nur schwer möglich war. Und leider waren die gezeigten Stücke künstlerisch derart schwach, dass die Sinnhaftigkeit dieses Unterfangens grundsätzlich infrage gestellt werden muss.

Enttäuschungen und Ärgernisse

Wie bei jeder bisherigen Ausgabe von Tanz im August gab es auch Enttäuschungen, Ärgernisse und Fehleinladungen. So hat das Duo Ginevra Panzetti & Enrico Ticconi mit "Insel" entgegen den Erwartungen ein völlig versponnenes, unklares Stück abgeliefert. Ebenso wenig nachvollziehbar wie "Darkmatter" von Cherish Menzo, in dem Tanz, Bühne, Szenerie lediglich als reichlich obskure Umrahmung für den eigenen Rapgesang eingesetzt wurden, der noch dazu akustisch unverständlich geblieben ist. Eine dramaturgische, choreografische und tänzerische Enttäuschung war leider auch das Stück "Libya" von Radouan Mriziga. Hier seien nur diese drei Beispiele genannt.

Ricardo Carmona wird 2023 die künstlerische Leitung des Festivals Tanz im August übernehmen. (Dorothea Tuch)
| Bild: Dorothea Tuch

Durchwachsene Ausgabe des Tanzfestivals

Insgesamt war das eine durchwachsene, eine mittelprächtige Ausgabe von Tanz im August, obwohl die Ideen von Kurator Ricardo Carmona richtig und teilweise auch aufgegangen sind, etwa die Konzentration auf die Kulturen des Mittelmeerraums, auf Portugal und Afrika, v.a. Nordafrika oder die Idee, v.a. Tanzstücke einzuladen, die gegenwärtige historische, soziokulturelle oder kulturgeschichtliche Perspektiven auf die Herkunftskulturen thematisieren. Zwar sind die Diskurs-Verortungen oft äußerlich geblieben, sind die Umsetzungen in Tanz, Szene, Bühne künstlerisch-ästhetisch hinter den Diskurs-Ansprüchen zurückgeblieben, aber das ist ohnehin ein aktuelles Phänomen der zeitgenössischen Tanzproduktion.

Für seine nächste Festivalausgabe sollte Ricardo Carmona den Blick in die Welt wieder weiten, sollte etwa den Tanz aus Asien wahrnehmen. Er sollte, sofern das finanziell möglich ist, größere, weniger kleinteilige Tanzproduktionen einladen und sich entschlossen vom üblichen, gängigen Programm des Hebbel am Ufer, dessen langjähriger Tanzkurator er war, lösen. Auch das gehört zu seiner selbstgesetzten Aufgabe: die Tradition des Tanzfestivals zu wahren und damit auch das bedeutende Erbe seiner unter unschönen Umständen geschassten, sehr erfolgreichen Vorgängerin Virve Sutinen.

Frank Schmid, rbbKultur

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