Berliner Ensemble: Love Boulevard v.l. Ivy Grey, Josefin Platt, Golden Gai, Philine Schmölzer, Violet Black, Kathleen Morgeneyer, Mare D'Angosto © JR Berliner Ensemble
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Berliner Ensemble/Neues Haus - "Love Boulevard"

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Lies Pauwels, 1968 im belgischen Gent geboren, hat als Schauspielerin und Regisseurin großes Renommee. Sie war in den legendären Inszenierungen von Alain Patel zu sehen und hat mit international agierenden Compagnien gearbeitet. In ihren Inszenierungen lotet sie die Grenze des Machbaren und Möglichen aus und bringt Schauspieler*innen und Laien-Darsteller zusammen. Dabei schont sie weder sich noch die Mitwirkenden oder das Publikum. Jetzt flaniert Lies Pauwels im Neuen Haus des Berliner Ensembles über den "Love Boulevard".

Doch besonders romantisch geht es auf dem Boulevard der Liebe nicht zu. Man trifft dort Schauspielerinnen, die so tun, als würden sie ihre erotischen Obsessionen und sexuellen Neigungen offenlegen, ihre existenziellen Ängste und materiellen Sorgen. Auf der Bühne stehen außerdem Prostituierte und Sex-Arbeiterinnen, deren Betätigungsfeld sonst nicht das Theater, sondern das Bordell ist und der Straßenstrich. Sie beschreiben, was sie erleben und erleiden, warum und wie sie das ziemlich harte und oft gefährliche Geschäft mit dem Sex betreiben, erzählen, wie prekär ihre Situation ist und wie sie, obwohl Sexarbeit längst legal ist, gesellschaftlich diskriminiert werden und im Unsichtbaren agieren. Die Kooperation zwischen Schauspielerinnen und Sex-Arbeiterinnen versucht hinter die Fassade von Tabus zu blicken und herauszufinden, wie Liebe zur Ware wird und was unsere sexuellen Neigungen und erotischen Sehnsüchte über uns aussagen.

Balance-Akt zwischen schauspielerischem Chaos und erotischer Gymnastik

Es ist ein Balance-Akt zwischen schauspielerischem Chaos und erotischer Gymnastik, ein Kuddelmuddel aus Stimmen, die mit- und gegeneinander reden und gemeinsam eine satirisch zugespitzte, kunterbunte Szenen-Collage entwickeln. Es wird gestritten und gesungen, lange Monologe werden gehalten und kurze Statements abgesondert, alles in einem babylonischen Sprachengewirr aus Deutsch, Englisch, Schwedisch und vielen anderen Sprachen. Eine Frau philosophiert über Einsamkeit, eine andere über Freiheit, eine quasselt über sexuellen Exzess, eine andere über sexuelle Ausbeutung, eine beschwört die Liebe, eine andere den Hass, eine beichtet ihre Scham, eine andere ihren Ekel. Als Roter Faden wird permanent die Frage umkreist, was Schauspielerinnen von Sexarbeiterinnen eigentlich unterscheidet: Denn beide spielen Rollen, täuschen tiefe Gefühle und laute Orgasmen vor: Das "So-tun-als-ob" ist Teil ihrer beider Arbeit. Weil dies so ist, hecheln und stöhnen sie dann gemeinsam, reden über Lust und Schmerz beim Auspeitschen, seufzen inbrünstig und züchtigen das Publikum mit einem Spruch des ollen Brecht: 2„Glotzt nicht so romantisch."

Die harte Kost wird leicht gemacht

Im Hintergrund steht eine dreistufige Tribüne, auf der die Mitwirkenden sich ausruhen, neuformieren und wie ein das Geschehen anleitender und zugleich kommentierender antiker griechischer Chor wirken: nur eben diesmal in Strapsen, Lederstiefeln und durchsichtigen Blusen. Auf einem flauschigen-orientalischen Teppich können sie sich gemütlich betten und lasziv räkeln, gern auch demonstrieren sie die Reißfestigkeit von Kondomen und die Lustmöglichkeiten von Dildos, verbinden sich die Augen, fesseln sich und geben eine kleine Einführung in das weite Feld der sexuellen Perversionen. Oder sie verkleiden sich als Rotkäppchen und suchen den bösen Wolf, fläzen sich auf den Teppich, lesen pornografische Hefte und masturbieren ein bisschen. Das alles ist natürlich nicht jugendfrei und nur für notorische Voyeure ein Lustgewinn. Doch die harte Kost wird leicht gemacht, indem niemand das sexuelle Treiben wirklich ernst nimmt, immer wieder jemand aus seiner Rolle fällt, gegen den Text protestiert und betont, keine bange, es ist alles nur Fantasie und Theater, um dann gleich zu hinterhältig fragen: Oder etwa nicht?

Kein Abend für sanfte Gemüter

Das Publikum wird oft direkt angesprochen und einbezogen, aber mitmachen muss es - zum Glück - nicht. Doch man sollte auf einiges gefasst sein, es ist kein Abend für sanfte Gemüter, schon im Prolog warnt uns eine Stimme aus dem Off: "Seien Sie sich bewusst, dass dies kein Abend der Unterhaltung ist. Falls Sie sich sehr unwohl fühlen und Sie das Geschehen in Ihren Augen - oder in Ihren Ohren - massiv stört, sind Sie entschuldigt und dürfen den Saal würdevoll verlassen." Ist natürlich witzig gemeint, und niemand verlässt den Saal. Sollte man auch nicht. Denn der Abend ist vielleicht eine kleine Provokation, aber eine, die man aushalten kann und sollte. Denn hier werden auf spielerische Weise wichtige Probleme verhandelt und veralbert, das Lachen wird zur Waffe gegen blöde Bigotterie und zur Hymne auf freie Liebe und selbstbestimmte Sexualität. Und wenn zum Schluss alle zur Melodie von “I can’t help falling in love with you” vorwitzig gurgeln und fröhlich singen, ist das doch ein neckisches und tröstliches Finale eines ziemlich gewöhnungsbedürftigen Theaterabends.

Frank Dietschreit, rbbKultur