Alice © Bernd Schönberger
Bernd Schönberger
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Staatstheater Cottbus - "Alice" - Pop-Oper nach Lewis Carroll

Bewertung:

Das weiße Kaninchen, die freche Grinsekatze, der verrückte Hutmacher: Fast jedes Kind kennt und liebt die von Lewis Carroll erfundenen seltsamen und schrägen Geschöpfe, die der kleinen Alice in ihrer Traumwelt begegnen und sie in groteske Abenteuer verwickeln. Das 1865 veröffentlichte Kinderbuch "Alice im Wunderland" und der sechs Jahre später erschienene Fortsetzungsroman "Alice hinter den Spiegeln" gehören längst zum Kanon der Weltliteratur und wurden unzählige Male für Theater und Ballett, Oper und Film künstlerisch bearbeitet. Im Staatstheater Cottbus erzählt jetzt Regisseur Philipp Rosendahl seine Version von "Alice".

Philipp Rosendahl nennt seine Version eine "Pop Opera", weil für ihn, wie in einer Oper, die Handlung und ihr Fortgang nur nebensächlich sind. Antrieb zum Erzählen der Story kommt aus Gefühlslage der Protagonisten, die sich musikalisch in Gesang artikuliert. Bei Alice, dem Mädchen, das in einen Kaninchenbau fällt und dort bizarre Wesen trifft, ist es die Suche nach einer neuen Identität, sie rebelliert gegen Rollenklischees und Bevormundungen, will sich von allen Zwängen befreien. Die Musik wird bei diesem Akt der Selbsterkenntnis zur eigentlichen Handlung.

Alice - Ikone der Popkultur

Alice ist längst zur Ikone der Popkultur geworden ist, ihre Geschichte wird nun zur Pop-Oper: Viele bekannte und weniger bekannte Popsongs (von Deep Purple über Radiohead bis Florence and the Machine) werden neu arrangiert und mit einem Hauch von Selbstkronie frisch aufbereitet. Dafür verantwortlich ist Pop- und Jazz-Musiker Miles Perkin, der die Songs mit scheppernder E-Gitarre, verkratztem Kontrabass und zartem Klaviergeklimper zu einem wahren Klangerlebnis macht und zusammen mit seinem Percussionisten Jörg Trost die Schauspielsänger zu leuchtenden Stars eines zweistündigen Popkonzerts macht.

Szene aus "ALICE" am Staatstheater Cottbus
| Bild: Bernd Schönberger

Annika Neugart: Ein Riesentalent wie von einem anderen Stern

Die Zuschauer erleben einen Theatercoup, ein schauspielerisches und musikalisches Wunder! Annika Neugart ist eine Alice, wie man sie wahrscheinlich noch niemals gesehen und gehört hat. Sie ist Anfang 20, hat soeben ihr Schauspielstudium an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule in München beendet und wird in der kommenden Spielzeit Ensemble-Mitglied bei den Münchner Kammerspielen. Vorab gastiert sie noch schnell in Cottbus und hat eine umwerfende Bühnenpräsenz. Sie ist groß und kräftig, ihre Stimme kann höchste Höhen und tiefste Tiefen präzise ausloten. Annika Neugart macht nicht viel Aufhebens, um große Wirkung zu erzielen, ihre Bewegungen sind sparsam, ihr Blick ist forschend und frech, naiv und neugierig, ihre Gesang ist mal verspielt und zärtlich, mal fordernd und triumphierend: und immer von einem anderen Stern.

Abgredrehte Verkleidungen und erotisch aufgeladene Lieder

Regisseur Rosendahl weiß genau, was für ein Riesentalent er sich da geangelt hat, deshalb präsentiert er seine Alice dem Publikum genüßlich und lässt sie am Beginn der Inszenierung eine gefühlte Ewigkeit allein im Scheinwerferlicht stehen: Da steht sie in schlabbriger Alltagskleidung, spießigen Turnschuhen, ausgeleiertem blauen Pulli, verbeulter schwarzer Hose und schaut provokativ gelangweilt ins Publikum: Kein süßes kleines Mädchen wie beim pädophilen Lewis Carroll, sondern eine selbstbewusste junge Frau von heute, die sich gegen die Zumutungen der Welt wehren kann und es gleich mal so richtig krachen lassen wird.

Alice verschlägt es in eine Traumwelt nach dem Geschmack von Kostümbildner Philipp Basener: ein queerer Künstler mit einem Hang zu Drag Queens, schrillen Outfits, Stiefeln mit Plateausohlen, barock aufgetürmten Frisuren, weiß gepuderten Gesichtern. Ob Grinsekatze oder Märzhase, weißes Kaninchen, Hutmacher, Herzkönigin, Herzogin, Raupe oder Schildkröte - sie alle flanieren und stolzieren in abgedrehten Verkleidungen über die Bühne, singen erotisch aufgeladene Lieder und weisen der von einer Ohnmacht in die nächste Erregung fallenden Alice den Weg in eine sexuell befreite, diverse Zukunft.

Mara-Madeleine Pieler hat für diesen Befreiungsakt die passende Bühne gebaut: Zwei verschachtelte, unterschiedlich hohe Kreiskonstruktionen verdrehen sich ständig ineinander und zeigen ein Wunderland aus dunklen Käfigen und vergitterten Verließen. Klar, dass Alice es hier nicht länger aushält und endlich Herrin ihrer eigenen Geschichte sein will: "What you waiting for?" fragt sie sich selbst lauthals singend und meint uns natürlich alle: Ja, worauf warten wir eigentlich?

Alice © Bernd Schönberger
Alice - Szenenfoto | Bild: Bernd Schönberger

Ansteckende Lebensfreude

Das Publikum reagiert mit lautstarkem Jubel und euphorischem Applaus. Die Inszenierung geht schauspielerisch und musikalisch über die Grenzen Cottbusser Konventionen hinaus, unterhält und amüsiert auf intelligente Weise, ist ein deutliches, buntes Lebenszeichen von Kulturschaffenden gegen den grauen, biedermeierlichen und völkischen Muff, der durch die Brandenburger AfD-Provinz wabert. Die Darstellerinnen und Darsteller werden immer wieder zum Applaus auf die Bühne geholt. Irgendwann sind sie ermattet und überlassen Miles Perkin das Feld: erschöpft und glücklich hockt er sich noch einmal ans Klavier und singt dem Publikum ein leises Abschiedsständchen. Großartig. Bitte mehr solche Abende, die eine ansteckende Lebensfreude verbreiten!

Frank Dietschreit, rbbKultur