Nora Krug: Im Krieg © Penguin
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Zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg - Nora Krug: "Im Krieg"

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Bald jährt sich die russische Vollinvasion gegen die Ukraine zum zweiten Mal. Zeit, zurückzublicken: Wie haben die Ukrainer und wie haben die Russen den Kriegsbeginn erlebt – wie hat der Krieg, der in Russland offiziell "Spezialoperation" heißt, ihr Leben verändert? In ihrem Buch "Im Krieg" stellt die preisgekrönte Autorin und Illustratorin Nora Krug zwei Tagebücher aus Kyjiw und St. Petersburg nebeneinander. Die illustrierten Kurznachrichten aus dem ersten Kriegsjahr zeigen, wie verschieden die ukrainischen und russischen Erfahrungen sind.

Auf der ersten Titelseite im Buch fällt der Dreizack ins Auge, das Nationalsymbol der Ukraine, das möglicherweise ein stilisierter Falke ist. Nora Krug zeigt den Dreizack tatsächlich als Vogel: seine Flügel gleichen Messern oder auch Flammen, sein Kopf wirkt merkwürdig verrenkt. Fliegt der Vogel in die Freiheit, oder stürzt er ab? Er ist, wie der Schriftzug über ihm verdeutlicht, im Krieg. Er ist Opfer dieses Kriegs.

Visueller Journalismus

Gut, dass Nora Krug den ukrainischen Dreizack an diese Stelle setzt. Die international renommierte Autorin, die 1977 in Karlsruhe geboren wurde und Professorin für Illustration an der Parsons School of Design in New York ist, hat schon viele Preise für ihre Bücher bekommen. Ihr Debüt "Heimat. Ein deutsches Familienalbum" ist inzwischen Schulstoff in Deutschland. Ihre illustrative Ausgabe von Timothy Snyders Buch "Über Tyrannei" wurde von der New York Times zu einer der "Best Graphic Novels" und von der Stiftung Buchkunst zu einem der "Schönsten Deutschen Bücher" des Jahres 2021 gekürt.

Ihr neues Buch ging aus einer Serie in der Los Angeles Times und der Süddeutschen Zeitung hervor und erschien vergangenen Herbst zuerst auf Englisch. "Diaries of War", so der Originaltitel, sei Ergebnis ihrer Arbeit als "visueller Journalistin", so Nora Krug im Vorwort. Ihre Aufgabe sei es, "die Perspektiven meiner beiden Protagonisten akkurat und einfühlsam dokumentieren, auch dann, wenn ich deren Meinung nicht teile."

Krieg in Pastell

Akkurat und abstandslos stellt Krug die Perspektiven einer Ukrainerin und eines Russen nebeneinander. Als Russland seine Truppen am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschieren ließ, um das Nachbarland im erhofften "Blitzkrieg" mit allen Mitteln zu zerstören, schrieb Nora Krug der ukrainischen Journalistin K. und dem russischen Künstler D., zu denen sie zuvor nur einmal online Kontakt gehabt hatte. Aus der Frage, wie es ihnen ginge, und ihren Antworten entstand das Tagebuchprojekt. Beide Protagonisten willigten ein, dass Nora Krug "ihre individuellen, so gegensätzlichen Stimmen kontrastierend gegenüberstellen würde, um das öffentliche Bewusstsein für den Krieg zu schärfen".

Sie tut das liebevoll: die Handy-Kurznachrichten sind sauber handschriftlich in Kästchen eingetragen; die sparsam eingesetzten Illustrationen stilisieren Momente aus dem Blickwinkel der Protagonisten. Die linke, ukrainische Seite ist zartrosa gefärbt; die rechte, russische Seite blassblau. Als könne man den Krieg in Pastellfarben und geraden Linien entschärfen.

Keine Parallelgeschichte

Dass viele Ukrainerinnen und Ukrainer es aus guten Gründen nicht ertragen, neben Russinnen und Russen platziert zu werden, ignoriert Nora Krug. Ukrainer und Russen haben schon lange keine Parallelgeschichte mehr, wenn sie je eine hatten. Nur wenn man die Kurznachrichten-Tagebücher von K. und D. nicht neben-, sondern nacheinander liest, zeigen sie, wie verschieden die Ukrainerin und der Russe denken und handeln.

Von Petersburg nach Paris

Beginnen wir bei D., dem russischen Künstler. Worin seine Kunst besteht, erfährt man nicht. Er lebt mit Frau, zwei Kindern, neun und zehn, und Hund in St. Petersburg. Die Zeit nach dem 24. Februar 22 nennt er "die schlimmsten Tage meines Lebens. Putin richtet mein Land zugrunde." Er will nur eins: auswandern. "Man kann hier nicht mehr frei atmen."

Als Teenager in den 1990ern, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, habe er sich "in die Freiheit verliebt". Mit den Kindern ist er traurig, dass westliche Marken verschwinden: Nintendo, McDonalds, H&M, leider alles weg. Er sucht eine Existenzgrundlage im Ausland, um die Familie nachholen: Riga, Helsinki, Istanbul, Paris werden die Stationen seines nomadischen Lebens. Er sehnt sich nach der Familie, kehrt immer wieder nach Petersburg zurück, für wenige Tage. Er wird heimat- und orientierungslos, befürchtet, die Familie zu verlieren, vergleicht Putins Russland mit Nazi-Deutschland und klagt über den "sinnlosen" Krieg.

Sein letzter, fatalistischer Eintrag aus der 52. Woche lautet: "Der Krieg hat mir auch gezeigt, dass man seine Regierung in keiner Weise beeinflussen kann." Er hat es nie versucht, nicht einmal künstlerisch.

Von Kyjiw nach Kopenhagen

Die ukrainische Journalistin K. aus Kyjw nimmt überraschend "zuallererst ein Bad", als die Kriegsnachricht sie erreicht. Auch sie gehört zur gehobenen Mittelschicht, hat zwei Kinder, zwei und sechs, und möchte sofort raus aus der umkämpften Stadt. Mit ihnen fährt sie nach Lwiw und hilft dort, Schutzausrüstung für Kollegen zu besorgen. "Ich will die Ukraine nicht verlassen", schreibt sie. Nur die Kinder sollen ins sichere Ausland, zur Großmutter und zu Freunden nach Dänemark.

Über Warschau bringt sie die Kinder nach Kopenhagen, sie selbst aber "kann hier nicht herumsitzen, während mein Land in Flammen steht." Sie interviewt Zeugen, Überlebende, auch in Frontnähe. "Wie eine Brieftaube, die ständig von einem Ort zum anderen fliegt, befördere ich Habseligkeiten und Nachrichten hin und her."

Jeder Angriff trifft sie persönlich. K. verliert Freunde und Kollegen im Krieg, ihr Mann mietet ein Haus im westukrainischen Lwiw, die Wohnung in Kyjiw räumt er aus. Mitten im Krieg denkt K. über Widerstand nach: "Es gibt Wege, friedlich gegen Totalitarismus anzukämpfen. Oder man kann zu den Waffen greifen. Ein Problem wie dieses lässt sich nicht ohne Waffen lösen." Am Ende dieses langen Jahres gilt ihre größte Angst nicht mehr dem Krieg, sondern "emotionaler Taubheit", "wenn man sich innerlich taub fühlt."

Es ist eine Nachricht an uns alle; auch an D. aus St. Petersburg. Gegen die innere Emigration, gegen den Fatalismus.

Natascha Freundel, rbbKultur