Anne Weber: Bannmeilen © Matthes & Seitz Berlin
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Roman - Anne Weber: "Bannmeilen"

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Seit rund 40 Jahre lebt Anne Weber in Paris. Sie hat dort Literaturwissenschaft und Komparatistik studiert, als Lektorin und vor allem als Übersetzerin gearbeitet, und sie ist dort zur Schriftstellerin geworden, die anfangs auf Französisch, inzwischen aber auf Deutsch schreibt und ihre Bücher dann ins Französische übersetzt. 2020 hat sie für "Annette. Ein Heldinnenepos" den deutschen Buchpreis erhalten. Jetzt liegt ein neues Werk von ihr vor: "Bannmeilen" heißt es und im Untertitel "Ein Roman in Streifzügen".

Anne Webers neues Buch "Bannmeilen" nennt sich so: "Roman in Streifzügen". Doch ein Roman will daraus nicht werden. Die Ich-Erzählerin ist der Autorin durchaus ähnlich. Sie lebt wie Anne Weber schon seit langem im Zentrum von Paris, allerdings erfährt man nur wenig über dieses Ich.

Blick nach außen

Der Blick richtet sich nicht nach innen und nicht auf die eigene Geschichte, sondern nach außen. Zusammen mit dem algerisch-stämmigen Freund Thierry erkundet die Erzählerin die Banlieue, die wenige Kilometer von ihrer Wohnung entfernt beginnt, die sie aber nie zuvor betreten hat. Thierry ist dort aufgewachsen und wohnt immer noch da, obwohl er schon die ganze Welt bereist hat. Er ist der Anführer auf den gemeinsamen Exkursionen, der Ortskundige, manchmal auch der Beschützer, der die Verhaltensweisen der Menschen zu entziffern versteht. Dass sich hinter dieser Figur der Fotograf Bruno Boudjelal verbirgt, ist der Danksagung am Ende des Buches zu entnehmen. Der Fiktionalisierungsgrad tendiert gegen Null.

Entdeckung der fremden, fernen Welt in unmittelbarer Nachbarschaft

"Bannmeilen" handelt – ganz und gar dokumentarisch - von der Entdeckung dieser fremden, fernen Welt in unmittelbarer Nachbarschaft. Mehrere Wochen lang treffen sich die beiden fast täglich, anfangs, weil Thierry einen Dokumentarfilm plant, aber bald "ohne zu wissen, wie die Streifzüge begonnen haben" und "wann sie zu Ende sein werden".

Sie bewegen sich zu Fuß in einer Welt, in der Fußgänger nicht vorgesehen sind, wandern an gewaltigen Wohnblocks und an Autobahnen entlang, an riesigen Baustellen für die im Sommer bevorstehenden olympischen Spiele, an Einkaufszentren, Müllhalden und den Hütten der Ärmsten. Sie überqueren Brücken, durchstreifen struppige Grünanlagen, besuchen Friedhöfe und kehren immer wieder in ein kleines Café ein, das einzige seiner Art weit und breit, wo man tatsächlich Menschen treffen und Gespräche führen kann – auch wenn dort abstruse Verschwörungsideen verbreitet werden und der Cafébesitzer sich zunächst recht schweigsam gibt.

Sätze ohne Höhen und Tiefen

Sichtbar wird eine absurde Welt, die an Hässlichkeit, Verwahrlosung und Aussichtslosigkeit kaum zu überbieten ist und die den ganzen Irrsinn der menschlichen Zivilisation sichtbar macht. Das ist als soziologische oder städtebauliche Studie durchaus eindrucksvoll, auch wenn es in dieser Prosa naturgemäß keine Dramaturgie gibt, sondern mit jedem neuen Gang die Wiederholung, Erweiterung, Variation des Immergleichen. Es gibt viele leere Zwischenräume, Sätze, die wie die Straßen zum Durchfahren und schnellen Vergessen vorgesehen sind. Das Schreiben geht in die Breite, hat aber weder Höhen noch Tiefen. Seltsam auch, dass in einem kurzen Prolog eine Freundin namens Nadia eingeführt wird, die dann aber nie wieder vorkommt. Als wäre da zu Beginn noch ein Roman vorbereitet worden, der dann aber nicht stattfindet.

Das Buch überzeugt als Sammlung von Reportagen, nicht als Roman

Was sich entwickelt, ist jedoch das Verhältnis zwischen Thierry und der Ich-Erzählerin, dem Migrantenkind und der bürgerlich etablierten Europäerin, die zwar im Unterschied zu Thierry keine französische Staatsangehörigkeit besitzt, aber doch qua Hautfarbe und Herkunft zugehöriger ist als er. Mit viel Witz und Gefrotzel und wachsender Sensibilität gehen die beiden mit den Unterschieden um; da entsteht tatsächlich aus der Beobachtung der Stadtlandschaft heraus eine Freundschaft, aus der womöglich ein Roman hätte werden können, wenn die beiden mehr wären als Figuren, die ganz und gar in der Betrachtung ihrer Umgebung aufgehen.

So hinterlässt Anne Webers "Bannmeilen" einen zwiespältigen Eindruck. Das Buch überzeugt als Sammlung von Reportagen, die den Blick auf Stadt und soziale Verwerfungen schärfen. Es enttäuscht als Roman, der sich aus der bloßen Addition von Streifzügen eben nicht ergibt.

Jörg Magenau, rbbKultur