Didier Eribon: Eine Arbeiterin © Suhrkamp
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Autobiografischer Essay - Didier Eribon: "Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben"

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Für sein Buch "Rückkehr nach Reims" reiste der in Paris lebende Soziologe Didier Eribon nach dem Tod seines Vaters noch einmal in die Stadt seiner proletarischen Kindheit zurück. Eine Theaterfassung des Buches, das den Niedergang der Arbeiterklasse thematisiert, die sich von der Linken verraten fühlt und zum Front National übergelaufen ist, und überdies Eribons sexuelle Befreiung als schwuler Intellektueller beschreibt, wurde erfolgreich von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne inszeniert. Dort wird Eribon am Sonntag auch sein neues Buch vorstellen. Es trägt den Titel: "Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben".

In seinem Buch über die "Rückkehr nach Reims" hatte Eribon vor allem von seinem Vater erzählt, seiner Abnabelung aus dem Milieu der Arbeiterklasse und vom steinigen Weg der intellektuellen und sexuellen Befreiung. Er beschrieb, wie er - obgleich er eine steile wissenschaftliche Karriere hinlegte - zeitlebens wegen seiner proletarischen Herkunft "soziale Scham" empfunden und sich überall, im alten wie im neuen Leben, fremd fühlte.

Ein literarisches Denkmal für die Mutter

Der Tod des Vaters lenkte seinen Blick auf die eigenen Wurzeln, machte es möglich, dass er am Beispiel seiner eigenen Familie den politischen Schwenk der französischen Arbeiterklasse nach rechts soziologisch erklären konnte.

Im neuen Buch rückt die eigene Mutter in den Fokus: Wieder reist er von Paris nach Reims, wieder ist es "soziale Scham" und ein schlechtes Gewissen, das den gesellschaftlichen Aufsteiger antreibt. Jetzt will er seiner Mutter ein literarisches Denkmal setzen, der Frau, die ihre Kindheit in einem Waisenhaus verbrachte, sich mit 14 als Putzfrau verdingte, dann in einer Glasfabrik arbeitete und ein halbes Jahrhundert lang mit einem Mann verheiratet war, den sie nicht liebte: "Meine Mutter war ihr Leben lang unglücklich."

Eribon berichtet schonungslos vom Dahinsiechen einer Frau aus der Arbeiterklasse

Der Tod seiner Mutter wirft den Autor aus der Bahn und zwingt ihn, über die Einsamkeit alter Menschen, ihre soziale Ausgrenzung, ihre Abschiebung in Alten- und Pflegeheime, ihr würdeloses Dahinsiechen nachzudenken. Eribon beschreibt das schwierige Leben seiner Mutter, den zermürbenden Alltag einer Frau aus der Arbeiterklasse, die nie eine Ausbildung genossen hat und jahrzehntelang in einer Fabrik schuftete, sich um die Kinder kümmerte und die Familie zusammenhielt, sich gewerkschaftlich organisierte und bei jedem Streik mitmachte, dann irgendwann aussortiert wurde und miterlebte, wie die Fabriken geschlossen wurden - und viele sich seitdem nur noch mit prekären Jobs über Wasser halten.

Aus der aufmüpfigen Frau, die immer linke Parteien gewählt hatte, wurde eine verbitterte Alte, die ihren an Demenz erkranken Mann zu Tode pflegte und ohne jede soziale Bindung in ihrer Wohnung hauste, ihren politischen Frust und ihre gesellschaftliche Entwertung ummünzte in einen tiefen Hass auf alles Fremde: Eine linke Arbeiterin wird zur verbohrten Rassistin, wählt den Front National und wird von ihren vier Söhnen zum Sterben in ein Heim abgeschoben.

Die schonungslose Ehrlichkeit, mit der Eribon das schildert, macht einen fassungslos und traurig.

Verlust der persönlichen Autonomie

Drei der vier in alle Winde verstreuten Söhne (einer lebt in Belgien, einer in Südfrankreich, einer auf Réunion) lehnten es rundweg ab, sich um die kranke Mutter zu kümmern. Nur Didier Eribon bot an, sie in der Nähe von Paris in einem Heim unterzubringen, damit er sie häufiger besuchen könnte: Doch sie wollte ihre vertraute Umgebung und ihre Wohnung auf keinen Fall verlassen. Aber sie war inzwischen 87 Jahre alt, die körperlichen Kräfte schwanden, die geistigen Ausfälle nahmen zu. Manchmal brabbelte sie sinnloses Zeug, lag stundenlang hilflos auf dem Fußboden ihrer Wohnung und konnte sich nicht mehr allein aufrichten. Nur unter Tränen war sie bereit, in eine Pflegeeinrichtung zu ziehen. Aber dort verschlechterte sich ihr Zustand rasant. Sie hörte auf zu essen und zu trinken. Der Verlust ihrer persönlichen Autonomie wirkte wie ein psychologischer Schock und raubte ihr den Lebenswillen: Nach nur sieben Wochen im Heim war sie tot, ohne dass sie noch einmal Besuch von ihren Söhnen bekommen hätte.

Auch Didier Eribon schaffte es kein einziges Mal. Immer kam etwas dazwischen: Buchmessen, Lesungen, Kongresse, eine Virusinfektion, eine Theaterpremiere in Berlin. Von seinem Versagen und seiner mangelnden Empathie beschämt, bleibt ihm nur noch, ihr Leben Revue passieren zu lassen und ihr würdeloses Sterben, von der Familie verlassen und von der Gesellschaft aussortiert, schmerzlich genau zu beschreiben.

Eine Stimme für die Alten und Pflegebedürftigen

Nebenbei konsultiert er unzählige wissenschaftliche Quellen, doch die Politik, so sein Fazit, ignoriert die Alten und gibt ihnen keine Stimme. Die Philosophie kümmert sich allein um das zur Freiheit verdammte Individuum, das Herr seiner Sinne, zu kommunikativem Handeln und eigenständigem Denken fähig ist. In den Schriften von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, Norbert Elias und Jean Améry, Pierre Bourdieu und Michel Foucault sucht Eribon vergeblich nach einer Theorie des Alters, die den Wünschen der Alten und Kranken eine Stimme verleiht und für ihre Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte eintritt.

Soziologie, Politik und Philosophie nimmt er ins Gebet und fragt: "Wenn alte Menschen keine Stimme haben oder nicht mehr haben oder sogar, im Falle Pflegebedürftiger, nicht mehr haben können - sind dann nicht andere aufgerufen, ihnen eine Stimme zu geben?"

Frank Dietschreit, rbbKultur