Lize Spit: Der ehrliche Finder © S. Fischer
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Roman | Ab 14 Jahren - Lize Spit: "Der ehrliche Finder"

Bewertung:

Gleich mit ihrem Debütroman wurde Lize Spit 2016 berühmt. "Und es schmilzt" stand ein Jahr lang auf der Bestellerliste in Belgien. Das Buch ist inzwischen verfilmt worden und der Film wurde gerade erst zum besten flämischen Film des Jahres gekürt. Jetzt gibt es etwas Neues von Lize Spit zu lesen: "Der ehrliche Finder" erzählt von einer Jungensfreundschaft in der flämischen Provinz.

 

Lize Spit siedelt ihren Roman in den 90er Jahren in einem Dorf im flämischen Teil Belgiens an. Es ist die Zeit der Wählscheibentelefone und Flippo-Sammelalben. Es ist aber auch die Zeit des Kosovo-Krieges. Die Familie Ibrahimi, bestehend aus den Eltern und acht Kindern, ist geflüchtet und von der Dorfgemeinschaft hilfsbereit aufgenommen worden. Nun aber soll sie abgeschoben werden.

Das ist die Gegenwart in diesem Roman, die nicht nur das Leben der Familie überschattet, sondern auch die Freundschaft zwischen einem der Söhne der Geflüchteten – Tristan – und seinem Mitschüler Jimmy. Beide gehen in die dritte Klasse, obwohl Tristan ein Jahr älter ist. Beide sind Außenseiter, beide brauchen einander. Tristan braucht Jimmy als Kompass und Sprachlehrer, Jimmy braucht Tristan als Weg heraus aus seiner Einsamkeit.

Ein Sammler von Weltrang

Jimmy ist der Erzähler der Geschichte, er ist auch "der ehrliche Finder". Als Klassenbester ist er in der Schule für die anderen nur "der Streber". Meistens streift er allein mit seinem Fahrrad durch die Straßen, um Münzen und andere Gegenstände zu sammeln. Das Sammeln und Finden ist seine große Leidenschaft, er ist "der ehrliche Finder", der eines Tages tatsächlich etwas sehr Wertvolles entdeckt, weil gleich mehrere Tausend Francs im Ausgabeschlitz eines Bankautomaten vergessen wurden. Kurz kommt der Junge ins Träumen und Fantasieren:

"Fünftausend Francs, das bedeutete mehr als zweihundertfünfzig Tüten Chips, (…) das bedeutete: mehr als siebenhundertfünfzig Flippos, jeweils mit der Chance auf ein noch fehlendes Exemplar."

Er schnupperte an den Scheinen, sie rochen überraschend neutral, rollte sie zusammen und klemmte sich die dicke, fette Zigarre zwischen die Lippen, wie es Peter Bruchmüller in den Gaston-Comics machte, nur war er kein reicher Geschäftsmann mit einer Mappe voller Verträge, nein, in Kürze wäre er etwas Besseres: ein Sammler von Weltrang.

Aber der Reichtum ist so schnell wieder weg wie er gekommen ist, als die Eigentümerin zum Automaten zurückkehrt. Was diese Szene relativ am Anfang aber deutlich macht: Kinder bewerten den Wert von Dingen, auch von Geld und von Geschehnissen völlig anders als Erwachsene. Das bleibt der Grundton dieses Buches.

Geborgenheit auf dem Matratzenlager

Jimmys eigentlicher Schatz ist seine Flippo-Sammlung. Flippos waren runde Plastikbuttons mit aufgedruckten Film- oder Comichelden, die Kartoffelchips-Tüten beilagen und in den 90er Jahren waren sie der Renner bei Kindern in Belgien und Holland. Jimmy klebt die Flippos in Sammelalben und führt akribisch Buch darüber. Für Tristan legt er ein Extra Sammelalbum an - ein aus Kindersicht enormer Freundschaftsbeweis. Freundschaft und Gemeinschaft sind die Dinge, die Jimmy eigentlich langfristig findet. Als Trennungskind und Einzelkind ist Jimmy viel allein und erlebt bei der zehnköpfigen Familie Ibrahimi Geborgenheit. Dass sie alle gemeinsam in einem Zimmer auf einem Matratzenlager schlafen, findet er gemütlich.

So fühlt sich das also an, dachte Jimmy, Teil einer großen Familie zu sein. Die Ibrahimis waren eine komplette Sammlung für sich. Plötzlich konnte er sich vorstellen, weshalb manche Menschen sich nicht für das Füllen von Mappen interessierten.

Der Junge will natürlich auf keinen Fall, dass die Familie und sein einziger Freund abgeschoben werden. Diese Bedrohung ist der ernste Hintergrund dieses Romans, der von Anfang an auf einen großen Showdown am Ende zusteuert, ausgelöst durch einen Plan von Tristan und einer seiner Schwestern, mit Jimmy in der Hauptrolle, der die Familie aus dem Kosovo vor der Ausweisung retten soll. Welcher, soll hier nicht verraten werden.

Lize Spit trifft den richtigen Ton

Lize Spit schreibt konsequent aus Kindersicht. Was schon oft schief gegangen ist in der Literatur, gelingt der Belgierin spielend und überzeugend. Sie trifft den richtigen Ton und zeichnet glaubwürdige Charaktere. Jimmy, der in seiner Nerdigkeit auch ein bisschen nervt, aber mit einem riesigen Herz und einer großen Hilfsbereitschaft ausgestattet ist. Man weiß nicht so richtig, ob der ein Jahr ältere Tristan die Spiele seines Freundes genauso unterhaltsam findet wie dieser oder ob er sie Jimmy zuliebe mitmacht, aber er nimmt seinen Freund ernst. Als Leserin betrachtet man die Welt durch Kinderaugen, weiß aber natürlich immer mehr als der Erzähler - zum Beispiel, dass die Ibrahimis nachts ihre Wohnung verbarrikadieren und sich im Schlaf aneinander festhalten, weil die Schrecken des Krieges und der Flucht Angstzustände bei ihnen auslösen. Jimmy spürt das auf seine Art auch. Die Ibrahimi-Kinder nennen es "innere Erdbeben", wenn das Erlebte und Traumatische sie einholt. Als Tristan sein "inneres Erdbeben" beim Anblick des Meeres auf einem Schulausflug erlebt, versteht Jimmy intuitiv, wie er für seinen Freund da sein kann.

Nach einer wahren Geschichte

Lize Spit schafft Leichtigkeit und Humor dort, wo zu viel Naivität und sogar Kitsch drohen könnten. Sie erzählt spielerisch von Mitmenschlichkeit, Freundschaft und Solidarität. Und vor allem nachfühlbar und plastisch von einem der größten Themen unserer Zeit: Flucht und Krieg. Sie hat sich dabei von der wahren Geschichte einer zehnköpfigen Familie inspirieren lassen, die 1999 aus dem Dorf, in dem Lize Spit aufgewachsen ist, aus Belgien abgeschoben werden sollte. Nach massiven Protesten der Dorfgemeinschaft bekam die Familie doch noch Asyl.

Im Roman bleibt das Schicksal der Familie offen. "Der ehrliche Finder" ist ein Buch, das für Menschen ab 14 Jahren ist, das aber unbedingt alle und nicht nur Jugendliche lesen sollten, denn es eröffnet neue und ungewöhnliche Perspektiven auf ein wichtiges Thema.

Nadine Kreuzahler, rbbKultur

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