Gorki Theater: Im Menschen muss alles herrlich sein © Ute Langkafel MAIFOTO
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Maxim Gorki Theater - "Im Menschen muss alles herrlich sein"

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Sasha Marianna Salzmann war lange Zeit Hausautor*in und Leiter*in der Studiobühne am Berliner Maxim Gorki Theater. Inzwischen hat die in Wolgograd geborene und in Moskau aufgewachsene Autor*in, die 1995 mit ihrer Familie als "jüdischer Kontingentflüchtling" nach Deutschland kam, mit zwei Romanen auf sich aufmerksam gemacht. Ihr Debüt "Außer sich" stand 2017 auf der Shortlist, "Im Menschen muss alles herrlich sein" 2021 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Nachdem Sebastian Nübling bereits eine Theaterfassung von Salzmanns Roman-Debüt inszeniert hat, bringt er jetzt auch ihren Folgeroman auf die Gorki-Bühne.

"Im Menschen muss alles herrlich sein": ein frommer Wunsch, denn der Mensch ist des Menschen Feind, gerade in den Zeiten des gesellschaftlichen Zusammenbruchs und schwierigen Neuanfangs in einem fremdem Land. Den titelgebenden Satz hat sich Salzmann bei Tschechow (aus "Onkel Wanja") geborgt, dem Kenner der russischen Melancholie und Sehnsucht nach einem besseren Leben.

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Verdrängung des Vergangenen

"Im Menschen muss alles herrlich sein", sagt zu Sowjetzeiten im Roman der Chefarzt einer ukrainischen Klinik zu seinen Mitarbeitern, wenn er sie klein, hässlich und ungebildet machen will. Eine der jungen Ärztinnen heißt Lena, die nach dem Kollaps des Ostblocks zusammen mit ihrer Freundin Tatjana ihre ukrainische Heimat Richtung Deutschland verlässt. Die beiden Frauen stranden in Jena und wollen von ihrem Leben in einem System aus Lügen, Korruption und Unterdrückung nichts mehr wissen. Sie verdrängen das Vergangene, verkapseln sich in Schweigen: Weder spricht Lena mit ihrer Tochter Edi noch Tatjana mit ihrer Tochter Nina über all die leidvollen Erfahrungen und Erlebnisse, die Mütter geben das Virus der Sprach- und Heimatlosigkeit, des Leids und Unglücks weiter an ihre Töchter, die sich in der deutschen Realität nur schwer zurechtfinden.

Von der romantischen russischen Seele bleibt an diesem Abend nichts übrig

Sebastian Nübling schafft es, den 385 Seiten starken Roman radikal einzudampfen, die verschachtelte Geschichte, unzähligen Handlungsorte, politische Debatten und Figuren auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Er setzt die Axt an den Text, dem fällt auch der Tschechow-Satz zum Opfer: Aber das ist nicht schlimm, denn von der romantischen russischen Seele bleibt nichts übrig an diesem Abend, der Russland als stalinistisches Terrorsystem vorführt, das der Ukraine millionenfaches Leid gebracht hat.

Aus dem politisch weit ausgreifenden Text schält Nübling einen mehrstimmigen Chor heraus, es geht um die Sprache der vier Frauen, die sich nur befreien und zueinander finden, wenn sie die Mauer des Schweigens niederreißen und der Hölle des Vergessens entkommen können.

Große Sprach- und Schauspielkunst

Mit Yanina Cerón (Edi), Lea Draeger (Nina), Anastasia Gubareva (Tatjana) und Çiğdem Teke (Lena) stehen vier Schauspielerinnen auf der Bühne, die ohne Rücksicht auf Verluste menschliche Abgründe durchleben, alle Töne und Zwischentöne beherrschen: Ihre qualvolle Selbstentblößung ist ganz große Sprach- und Schauspielkunst.

Für den "Chor der Stimmen" existiert keine konkrete Bühnenlandschaft, sondern ein abstrakter Un-Ort, ein schwarzes Loch, in dem sich die Menschen und Wörter verlieren, neu zusammensetzen und gegen ihre Erfinderin durchsetzen müssen.

Der Abend beginnt deshalb mit einer (satirischen) Autorinnen-Beschimpfung, die vier Frauen finden, sie seien im Roman zu kurz gekommen, müssen nun dem Publikum erzählen, was sie bewegt und verängstigt, warum sie die Heimat verließen, doch hier nie richtig angekommen sind, alle erzählen von Trauer und geplatzten Träumen, buhlen um unsere Aufmerksamkeit und Absolution. Wenn sie sich vom Publikum ab- und einander zuwenden, wird daraus nie ein Gespräch, immer nur ein Keifen und Bellen, werden Vorwürfe und Forderungen laut, will jede das letzte Wort haben.

Der Eiserne Vorhang, der einst die politischen Systeme teilte, fällt jetzt als Eiserner Bühnenvorhang zwischen die Frauen, mal sind sie davor, mal dahinter, immer wieder heben und fallen Eiserne Vorhänge zwischen die einsamen, isolierten Frauen, die für sich allein singen und einsam weinen. Spät, aber nicht zu spät, finden sie eine gemeinsame Sprache, können verzeihen und vergessen: Der Eiserne Vorhang zerfasert und öffnet einen Raum, der die Polyphonie der Stimmen in harmonischen Gleichklang und gemeinsames Erzählen verwandelt.

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Ein Universum an Gedanken und Gefühlen

Das Publikum ist mucksmäuschenstill still, erschüttert und mitgenommen, es hängt an den Lippen der Sprecherinnen, sucht nach kleinen Momenten des Lächelns. Der Schlussapplaus für diesen radikal-mutigen Text-Eingriff und sprachmächtigen Theaterabend gleicht einer Befreiung. Schöner, bewegender kann man vom Schmerz um Verlorenes nicht erzählen. Oft sind Theaterabende viel zu lang und gähnend langweilig. Dieser ist - mit nur anderthalb Stunden - viel zu kurz. Ein Universum an Gedanken und Gefühlen wird eröffnet, in dem man gern noch mehr Zeit verbracht hätte.

Frank Dietschreit, rbbKultur