Staatsballett: Overture © Serghei Gherciu
Serghei Gherciu
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Staatsballett Berlin - "Overture" - Choreografien von Crystal Pite und Marcos Morau

Bewertung:

Äußerst bildgewaltig und mit Massentanz-Szenen: das ist "Overture", der neue Doppelabend des Berliner Staatsballetts mit Stücken der kanadischen Choreografin Crystal Pite und des Spaniers Marcos Morau.

Marcos Morau könnten die Berliner und Brandenburger Tanzfans kennen. Er war viermal mit seiner Company "La Veronal" beim Tanz im August, beim Internationalen Tanzfest Berlin zu Gast, hatte 2014 einen Überraschungserfolg mit seinem ersten Gastspiel "Siena", dem Geistertanzstück. Und er konnte nach zwei etwas schwächeren Stücken vor zwei Jahren wieder einen Triumph feiern, mit "Sonoma", der Prozessions-Ritual-Ekstase-Ahninnen-Kult-Beschwörung, einer Art dunklen Messe. Morau ist bekannt für seine bildgewaltigen Kunst- und Kulturgeschichts-Assoziations-Stücke, er ist mit seinen Anfang 40 sehr begehrt als Choreograf und so ist es schon ein Erfolg, dass es Staatsballett-Intendant Christian Spuck gelungen ist, ihn für drei Jahre als artist in residence ans Staatsballett zu binden.

Crystal Pite – wenig bekannt in der Region

Crystal Pite, Mitte 50, früher selbst Tänzerin, war hingegen sehr selten in unserer Region zu sehen. Sie choreografiert schon seit Beginn der 90er Jahre, u.a. für berühmte Compagnie, etwa das Nederlands Dans Theater und sie war 2010 zu Gast bei den Potsdamer Tanztagen mit "Dark Matters", einer magisch-märchenhaften, auch an Horrorfilme erinnernden Choreographie, durchaus typisch für für ihre Arbeit, wie auch beim Gastspiel des Nederlands Dans Theaters 2017 mit einer ihrer Choreografien zu sehen war.

Vergehen und Neubeginn

Leben und Sterben, Vergehen und Neubeginn. Der Kreislauf des Lebens, die Überforderung des Menschen, mit seinem Schicksal umzugehen, dem Schicksal, sterben zu müssen. Das sind die Themen dieses Doppelabends, das vereint die beiden kurzen Choreografien. Wobei Marcos Morau mit großer Geste und jahrtausendeübergreifend vorgeht und Crystal Pite in die Spiritualität, sogar in die Mystik hinein inszeniert.

Werden, Vergehen und Untergangsängste

Marcos Morau erzählt in "Overture" fast filmisch vom Werden und Vergehen von Gesellschaften und Zivilisationen. Zu Beginn liegt eine riesige Tempelsäule umgestürzt auf dem Boden, dutzende halbnackte Tänzerinnen und Tänzer wimmeln um diese Säule herum – hier könnte gerade die antike griechisch-römische Welt untergegangen sein. Später tollen und toben die Tänzer in einem Säulen-Labyrinth – das ist ein fröhliches Spielen, das ebenso schnell vergeht, wie die kurzen Momente, in denen Liebe zwischen zwei Menschen möglich zu sein scheint. Denn über allem hängt ein namenloses Entsetzen, hängt die Angst vor dem Untergang, vor der Apokalypse.

Das dürfte Moraus Analyse unserer Gegenwart sein: Überforderung durch Untergangsängste – aber das ist schon das Konkreteste, was sich zu diesem Stück sagen lässt, denn Morau bleibt gewollt rätselhaft, alles ist bewusst bedeutungsoffen gehalten.

Spektakuläre Bilder, spektakelhafter Tanz

Morau, der selbst nie Tänzer war, inszeniert gigantische Massenszenen, Menschenmassen in synchronen Zuckungen, in Wellenbewegungen oder wie in Fresken oder Friesen erstarrt. Er inszeniert Bilder von Sehnsucht und Aufbruch, von Scheitern und Untergang. Er inszeniert spektakuläre Bilder und einen spektakelhaften Tanz: ein mechanisch-hartes Zucken und Ruckeln, Tänzer wie grotesk zappelnde, die Glieder werfende Zombies, als uniforme, folkloristische Masse oder halbnackter Geisterreigen. Und das alles zur hochdramatischen 5. Sinfonie von Gustav Mahler, die Morau sehr oft in seinen Bildern und Bewegungen illustriert.

Beifall für Marcos Morau, aber ...

Das Publikum hat dieses Stück und Marcos Morau begeistert gefeiert. Seine "Overture", sein Auftakt, sein erstes von vermutlich drei Stücken für das Staatsballett, war allerdings auch betont rätselhaft, war unklar in der Verwendung der Mittel. Morau hat sich teilweise in seinen Assoziationen verrannt – sein Stück ist tänzerisch wenig variationsreich, ist in sich gewollt widersprüchlich und daher unklar in der Botschaft.

Staatsballett: Angels' Atlas © Serghei Gherciu
Staatsballett: "Angels' Atlas" | Bild: Serghei Gherciu

Magisches Lichtspiel bei Crystal Pite

Crystal Pite setzt ähnlich wie Morau auf Überwältigung durch Bilder - sie hat ein magisches Lichtspiel inszeniert. Das Wichtigste bei diesem Stück, 2020 vom Kanadischen Nationalballett uraufgeführt, ist die Lichtinstallation. Auf einer riesigen Leinwand im Hintergrund entstehen und vergehen Licht-Funken-Schlieren-Wolken, Licht-Kristalle, Licht-Felder, Licht-Wucherungen – mehr Effekt geht kaum noch als dieses Flackern und Leuchten.

Im Tanz sind ihre Herkünfte vom Klassischen Ballett und von William Forsythe zu sehen, also Neoklassik und Moderne, das aufgesprengte Ballett, die zersplitterten Körper. Auch Crystal Pite inszeniert große Massenszenen mit synchron pumpenden, schlagenden, pressenden Körpern, mit einer harten und scharfkantigen Bewegungssprache – die wenigen Paar-Tänze sind im Vergleich dazu überraschend lyrisch. Man sieht ihrem Tanz ihre Erfahrung und auch Routine an.

Standing Ovations für Crystal Pite, aber ...

Die Lichteffekte und die Musik bilden den spirituellen Rahmen, v.a. die Chorstücke des Amerikaners Morten Lauridsen, auch sein berühmtestes: "O Magnum Mysterium" erklingt, also stark religiös inspirierte Chormusik.

Auch dieses Stück ist visuell überwältigend, ist allerdings tanzstilistisch nichts Besonderes und grenzt darstellerisch mitunter an Kitsch, wenn Gebets- und Ritualgesten eingesetzt werden. Das Publikum hat die Tänzer und Crystal Pite mit Standing Ovations gefeiert.

Beeindruckende Erfolgsbilanz von Christian Spuck

Insgesamt ist dieser Doppelabend "Overture" dermaßen auf bildgewaltige Effekte choreografiert, dass das sicherlich ein Publikumserfolg wird.

Es ist beeindruckend: Christian Spuck hat in seiner ersten Saison einen Lauf. Vor kurzem wurde die Publikumsauslastung der ersten Monate mit 98 % berechnet – das ist unfassbar gut. Christian Spuck und seine neue Company, er hat ja viele Tänzer ausgetauscht, ziehen das Berliner Publikum an. Und das dürfte sich fortsetzen Mitte Mai beim Abend mit kurzen Stücken der Tänzerinnen und Tänzer und Anfang Juli bei der Jubiläums-Ballett-Gala.

Frank Schmid, radio3