Matthias Kirschnereit: Time Remembered © Berlin Classics
Bild: Berlin Classics

Album der Woche | 30.10. - 05.11.2023 - Matthias Kirschnereit: "Time Remembered"

Die Jazz-Ballade "Time remembered" von Bill Evans hat den Pianisten Matthias Kirschnereit auf die Idee gebracht, "Time remembered" zum Konzept und auch gleich zum Titel seines Albums zu machen. Darauf geht es nicht nur um persönliche Erinnerungen, sondern auch um den Umgang mit der Zeit in der Musik. Ein vielfältiges Doppelalbum mit 32 kurzen Klavierstücken.

Um die Stücke für sein Album "Time remembered" einzuspielen, hat Matthias Kirschnereit einen 30 Jahre alten Steinway-Flügel mit einem schlanken und besonders transparenten Klang ausgewählt.

Als Junge musste Matthias Kirschnereit zeitweise mit einem Keyboard vorliebnehmen. Im Booklet ist ein Foto abgebildet, auf dem man ihn in T-Shirt und kurzer Hose am Keyboard sitzen sieht, im Freien auf einer Farm. Unter ihm sandiger Boden, hinter ihm zwei große Vögel. Schauplatz dieser grotesken Szenerie ist Namibia. Dort hat er einige Jahre seiner Kindheit und Jugend verbracht:

"Da waren zwei zahme Vogelstrauße, die von diesen Klängen angelockt wurden. Die kamen mit ihren harten Schnäbeln und pickten dann auf den Tasten rum. Ich war heilfroh, dass sie nicht auf mir rumpickten! Ich habe dann zehn Minuten meinen Mozart-Satz geübt, und dann wurde das Ding wieder eingepackt. So war eben meine Klavierausbildung in Namibia."

Matthias Kirschnereit, Pianist © Maike Helbig
Bild: Maike Helbig

Playlist des Lebens

Diese und andere Erinnerungen sind mit der Musik seines Albums verbunden. Eine Art Playlist seines Lebens sei da entstanden, sagt Kirschnereit. Eine Playlist mit "Fotoalbum-Charakter": 32 Originalkompositionen und Bearbeitungen aus 400 Jahren Musikgeschichte.

Klassische Stücke wie der Bach-Choral "Jesu bleibet meine Freude" (den kannte er von einer Schallplatte mit Dinu Lipatti, die zu Hause oft aufgelegt wurde) stehen genauso auf der Playlist wie Poptitel - zum Beispiel "Here comes the Sun" von den Beatles. Der Song stammt vom Album "Abbey Road", das Kirschnereit in seiner Jugend rauf- und runtergehört hat.

Reflektionen der Zeit

"Aber ich habe natürlich auch Stücke integriert, die losgelöst von meinem persönlichen Erleben das Vergehen von Zeit, das Erleben von Zeit, manchmal das Erleiden von Zeit oder das Rückblicken auf eine Zeit auch in der Komposition reflektieren.“

Dazu gehört zum Beispiel Claude Debussys Stück "Mouvement" (Bewegung). In dem lässt die linke Hand die Zeit unerbittlich rattern, während die rechte eine unbekümmert schlendernde Melodie spielt.

Auch das Stück "Aus dem Tagebuch einer Fliege" hat es aufs Album geschafft:

"Weil die Fliege in der Zeit lebt und etwas erlebt hat. Und sie hat da irgendwas aufgeschrieben. Ich liebe das Stück. Das ist eine chromatische Studie von Béla Bartók. Und Bartók scheint selbst seine Freude daran gehabt zu haben. Auf dem Höhepunkt dieses Stückes schreibt er: 'Oh weh, ein Spinnennetz!' Ich muss immer total lachen, wenn ich an dieser Stelle ankomme und ich habe das auch nicht ohne Augenzwinkern aufgenommen.“

Matthias Kirschnereit, Pianist © Maike Helbig
Sigurd Imsen Bild: Maike Helbig

Namibia und Perkussion

Der Titel "Namibia" fällt aus dem Rahmen, denn es ist das einzige der 32 Stücke, in dem noch andere Musiker dabei sind:

"Ich dachte, ich muss irgendwas finden, was auch künstlerisch, inhaltlich tatsächlich mit Namibia konnotiert ist. Und ich fand von der Liberation Group aus dem Jahre 1976 - das war genau das Jahr, als ich mit 14 Jahren Namibia verließ, wo der politische Umbruch so langsam, aber sicher auch in Namibia vonstattenging - dieses Stück 'Namibia'. Das fand ich aber für Klavier solo zu monoton, und dachte: hier muss noch irgendwas dazu."

Und so kam es, dass Matthias Kirschnereit zum ersten Mal in seinem Leben mit drei Perkussionisten zusammen Musik gemacht hat:

"Sehr ungewöhnlich, wenn man Busoni und Chopin spielt und dann plötzlich 'Namibia' mit Perkussion. Aber die Welt ist groß.“

Imke Griebsch, rbbKultur