Shirley Brill: Roots – Pieces in Folk Style; Montage: rbbKultur
Bild: Hänssler Classic

Album der Woche | 09.10. - 15.10.2023 - Shirley Brill: "Roots – Pieces in Folk Style"

Bekannte volkstümliche Melodien oder Tänze in Kompositionen verarbeiten – das ist eine ziemlich beliebte Praxis bei vielen Komponistinnen und Komponisten! Die Klarinettistin Shirley Brill und der Pianist Jonathan Aner haben eine ganze Reihe solcher Kompositionen von deutschen und polnischen Komponisten auf ihrem neuen Album "Roots – Pieces in Folk Style" eingespielt. Eine durchaus persönliche Angelegenheit!

Folklore – das ist etwas, was einer Gruppe von Menschen das Gefühl von Zusammengehörigkeit geben kann, sagt Jonathan Aner. Musik wird dabei zum hörbaren Ausdruck der gemeinsamen Wurzeln. Shirley Brill und Jonathan Aner haben sich gefragt, wie eigentlich ihre eigenen Wurzeln klingen.

Von jüdischen, polnischen und deutschen Wurzeln

"Zum einen geht es um unsere Wurzeln, in der jüdischen Kultur.", sagt Shirley Brill.

Hörbar wird das zum Beispiel in den Klezmer-Anspielungen in der Klarinettensonate op. 28 von Mieczysław Weinberg. Die Klarinettistin und der Pianist wurden zwar beide in Israel geboren, Jonathan Aners Vorfahren kommen aber aus Polen. Das klingt auf dem neuen Album mitunter nach ordentlich Stimmung, wie in Witold Lutosławsksis "Five Dance Preludes".

Seit vielen Jahren leben Shirley Brill und Jonathan Aner jetzt schon in Deutschland – da dürfen Werke wie Robert Schumanns "5 Lieder im Volkston" nicht fehlen.

Musik als Geschichtenerzählerin

Robert Schumanns "5 Lieder im Volkston", sowie eine Reihe weiterer Kompositionen auf dem Album, hat Shirley Brill für Klarinette und Klavier arrangiert. Die eingängigen Melodien werden normalerweise von einem Cello gespielt. Wenn Shirley Brill sie auf der Klarinette spielt, klingen sie besonders strahlend, brillant und einfühlsam. Das Erzählerische kommt in der Interpretation der beiden Musiker voll zum Tragen.

"Es wirkt wirklich mehr, als ob man spricht, deutlich mehr, als ob man musiziert hätte. Man hat das Gefühl. Klar, man hört irgendwie Musik, aber es ist, als ob jemand mit einer Gitarre am Lagerfeuer sitzt, der eine Geschichte erzählt und sich selbst begleitet.", sagt Jonathan Aner.

Shirley Brill und Jonathan Aner; Foto: Caroline Doutre
Shirley Brill und Jonathan Aner | Bild: Caroline Doutre

Das Beste aus beiden Welten

Dass man Kompositionen mit folkloristischen Elementen hochgradig virtuos spielen kann, wird in jeder Sekunde hörbar. Die Leichtigkeit und Gelassenheit der Folklore verbinden sich in den Interpretationen von Shirley Brill und Jonathan Aner mit höchstem künstlerischen Niveau.

Wenn bunte Folkore einfarbiger Nationalismus wird

Shirley Brill und Jonathan Aner ist es wichtig, nicht nur die schönen und bunten Seiten von Folklore zu zeigen. Sie wollen auch die Gefahren von zu starken nationalen Gefühlen, das Umschlagen von Folklore in Nationalismus zeigen. Ein beinahe autobiografisches Werk eines jüdischen Komponisten aus Polen hat die Beiden besonders berührt und beeindruckt: Mieczysław Weinbergs Klarinettensonate op. 28, die der Komponist unmittelbar am Ende des 2. Weltkriegs komponiert hat. Während im ersten Satz noch alles gut ist, mischen sich in den folgenden Sätzen zunehmend Zerstörung, Chaos und Dissonanzen in die Musik, wie auch in Weinbergs Leben:

"Er hat seine ganze Familie verloren, er konnte fliehen, Folklore, Tänze und sanfte Momente werden zu einem extremen Aufschrei, zu einer Tragödie, zu einer Kulmination, die wir uns nicht mal vorstellen können.", sagt Jonathan Aner.

Damit endet die Komposition aber nicht: "Aber was am Stärksten ist, ist, dass die Sonate mit Hoffnung endet. Und so sehe ich das auch. Ich bin auch voll Hoffnung, dass alles schön wird und die Sonne strahlt, wie jetzt gerade draußen.", sagt Shirley Brill.

Henrike Leißner, rbbKultur