Am Seegarten: Zeitgenössische Kunst in historischen Bauten in Kirchmöser © Silke Hennig
Silke Hennig
Franz West (Galerie Klosterfelde Edition) | Bild: Silke Hennig Download (mp3, 7 MB)

Zeitgenössische Kunst in historischen Bauten in Kirchmöser - "Am Seegarten"

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"Zwischennutzung" durch Kunst hat in Berlin und Umgebung Tradition: Vom Palast der Republik in der Mitte der Hauptstadt bis hin zum allsommerlichen Ausstellungsprojekt "Rohkunstbau", das über die Jahre schon alle möglichen leerstehenden Schlösschen in Brandenburg wenigstens vorübergehend dem Vergessen entrissen hat. In diesem Sommer lockt ein neues Ausstellungsprojekt auf eine Halbinsel am Rande von Brandenburg an der Havel: "Am Seegarten – Zeitgenössische Kunst in historischen Bauten in Kirchmöser".

Im Ersten Weltkrieg wurde hier binnen kürzester Zeit eine Pulverfabrik mit Hunderten von Gebäuden errichtet. Jetzt werden zwei davon von einigen wichtigen, auch international operierenden Berliner Galerien mit ihren Künstlerinnen und Künstlern "bespielt".

Große Pläne

Ein riesiger Theatersaal mit Bühne und ramponierter Empore: Was einstmals Offizierskasino und später Versammlungsort war, wo Redner von Hitler bis Honecker aufgetreten sein sollen, die Puhdys, wo Hochzeiten und Jugendweihen gefeiert wurden, ist jetzt leergeräumt. Nur ein flaches graues Modul auf dem Boden kündet von neuen Zeiten und wandelt die inneren Bewegungen des schönen, aber sichtlich mitgenommenen Parketts in Knistern und Knacken und bisweilen lautes elektronisches "Blubbern" um.

Es handelt sich um eine Arbeit des Künstlers und Musikers Jan St. Werner, der vom Kunstquartier silent green im Wedding eingeladen wurde. Dessen Mit-Initiator Jörg Heitmann und der Galerist Patrick Ebensperger haben mit einem weiteren Partner dieses und das gegenüberliegende ehemalige Verwaltungsgebäude, in dem zuletzt eine Augenklinik untergebracht war, erworben. Ab Herbst soll beides saniert werden, und zum Atelierhaus bzw. zu einer Probebühne für Musik-, Tanz- oder Theaterkompanien mit Übernachtungsmöglichkeit umgebaut werden. Bis dahin und um ihre Pläne bekanntzumachen, haben die Berliner Kultur-Unternehmer neun befreundete Galerien wie Sprüth Magers, Esther Schipper oder Meyer Riegger zur Teilnahme an dieser sommerlichen "Zwischennutzung" eingeladen – und alle haben zugesagt.

Am Seegarten: Zeitgenössische Kunst in historischen Bauten in Kirchmöser © Silke Hennig
Benjamin Heisenberg (Galerie Ebensperger) | Bild: Silke Hennig

Von Anstaltsatmosphäre bis Muttitelefon

Auf rund 60 Räume verteilen sich nun die Werke bekannter wie weniger bekannter Künstlerinnen und Künstler. Im Pförtnerhäuschen vor der ehemaligen Augenklinik hält passenderweise ein Uniformierter "Wache": Der Künstler Björn Melhus auf einem Monitor. Dezent aber unübersehbar geschminkt, formen seine Lippen immer nur diese beiden Sätze: "We are in heaven. Why are we in heaven?" ("Wir sind im Himmel. Warum sind wir im Himmel?") Es klingt eher furchtsam, als seelig - und entsprechend ambivalent geht es weiter.

Manche Künstler arbeiten mit, andere gegen die von ihrer Vergangenheit und zahlreichen Graffitis gezeichneten Räume. Der Künstler Navid Nuur etwa zeigt Bilder, die sich ähnlichen chemischen Prozessen zu verdanken scheinen, wie die fleckigen Wände dahinter. Und die sinistren Schwarzweiß-Collagen und an Folterinstrumente erinnernden Metall- und Holz-Konstruktionen der Tschechin Eva Kotatková verbinden sich mühelos mit verbliebenen Hinweisschildern auf "Röntgen" und "Gesichtsfeldmessung" zu morbider Anstaltsatmosphäre.

Aber es geht auch anders: Ausgesprochen heiter beispielsweise bei der Galerie Klosterfelde Edition, die ein Eckzimmer mit den Arbeiten des verstorbenen Wiener Künstlers und Kunstmarkt-Lieblings Franz West möbliert hat: Stühle, deren Sitzflächen und Lehnen aus bunten Klebebändern bestehen - eine Einladung, Platz zu nehmen und fernzusehen. Denn auf dem bereitgestellten TV-Gerät ist noch einmal der Künstler bei dieser Form des "Upcyclings" zu beobachten. Aber die Ausstellung bietet auch weniger bekannte Positionen. Auf Einladung vom silent green ist im ehemaligen Offizierskasino beispielsweise die "Super 8 Kurz- und Kleinfilmerin" Dagie Brundert zu entdecken. In ihrem Schwarzweißfilm "Muttitelefon" stiftet sie auf ebenso überraschende wie witzige Weise Verbindungen aller Art - von den Mikroben in ihrem Körper bis zur großen Welt da draußen - per Schnur, per Bild, per Kurzschluss: Ein herrliches Plädoyer für Kommunikation.

Am Seegarten: Zeitgenössische Kunst in historischen Bauten in Kirchmöser © Silke Hennig
Tyra Tingleff (Galerie ChertLüdde) | Bild: Silke Hennig

Fazit

Der Weg nach Kirchmöser lohnt sich in diesem Sommer nicht nur wegen der Lage am Wasser oder der einzigartigen Industriearchitektur nebst Gartenstadtsiedlung. Die Kunst schlüpft hier gekonnt (mal wieder) in die Pionier-Rolle: Öffnet Türen zu lange vernachlässigten Orten und Geschichten, haucht Leben ein und lockt mit Zukunft.

Silke Hennig, rbbKultur