Mathis Enard: Tanz des Verrats © Hanser Berlin
Hanser Berlin
Bild: Hanser Berlin Download (mp3, 13 MB)

Roman - Mathias Enard: "Tanz des Verrats"

Bewertung:

Ein neues Buch von Mathias Enard, das ist jedes Mal ein Ereignis – und jedes Mal eine Überraschung. Denn der französische Großschriftsteller verstößt zuverlässig gegen die Konventionen des Erzählens, was zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führt. Auch diesmal hat er etwas Neues unternommen: zwei sehr verschiedene Romane in einem.

Mediterrane Landschaft, zaghafter Frühling, Berge, Macchie – und ein Soldat voller Blut und Schweiß, aber ohne Tränen. Stattdessen ein Geruch nach Scheiße an den Stiefeln, der mit keinem Wasser wegzuwaschen ist. Damit ist der Ton gesetzt, jedenfallls für die eine Hälfte dieses Buches, das ein Roman zu sein behauptet.

Menschen im Krieg

Es ist seine kreatürliche und sinnliche Hälfte, die mit animalischer Grausamkeit, mit Fleisch, oft blutigem Fleisch, Menschen am Rande des Krieges zeigt. Welcher Krieg das ist, wird nicht gesagt, ein Bürgerkrieg ist es wohl, in dem Nachbarn übereinander herfallen, einander töten, foltern, vergewaltigen.

Es geht in diesem halben Roman (der eine ganze Novelle ist, wenn man so altmodische Kategorien bemühen will), um einen desertierten Kriegsverbrecher und eine Frau, die Opfer derartiger Verbrechen. Die beiden begegnen einander per Zufall, denn sie haben dasselbe Ziel: überleben, raus aus dem Krieg, über die Grenze. Sie stehen nicht auf derselben Seite, sie belauern einander.

Eine Mathematiker-Biografie

Dieser Erzählung parallel läuft eine ganz andere, in einem sachlichen Ton von äußerster literarischer Exaktheit. Im Mittelpunkt steht der weltbekannte (fiktionale) deutsche Mathematiker Paul Heudeber, Überlebender des KZ Buchenwald, der 1998 auf ungeklärte Weise starb. Stichtag der Erzählung ist der 11. September 2001, letzter Tag eines Kolloquiums zu seinem Gedenken auf einem Kreuzfahrtschiff, bei dem seine Tochter und deren Mutter Maja, Heudebers große Liebe, mit internationalen Mathematikern auf einem Ausflugsdampfer auf der Havel zusammenkommen. Hier werden die Puzzleteile seines Lebens und seiner Theorien zusammengetragen, bis die Nachrichten aus New York die Versammlung sprengen.

Das zentrale Werk Heudebers sind die "Ettersberger Vermutungen", die er im KZ verfasst hat: mathematische Formeln und poetische Notizen, ein ungewöhnliches Gemisch aus Liebe und Zahlen, Theorie und wohlformulierter Verzweiflung.

Es wird ausführlich daraus zitiert, ebenso aus Briefen an Maja, die die DDR verließ und in Bonn als Politikerin Karriere machte. Es ist die Tochter, ihres Zeichen Mathematikhistorikerin, die Arbeit und Leben ihres Vaters erzählt, sich erinnernd, referierend, suchend und doch distanziert.

Literarische Versuchsanordung

Enard geht es um Verrat, um das Desertieren (so der französische Orignaltitel: "Déserter"): vom Wechsel der Seiten in einer Welt, in der es keine "richtige" Seite gibt. Heudebers Tochter stößt auf mehrere Spuren des Verrats im Leben ihres Vaters, der seinerseits seinen Überzeugungen eisern treu blieb – vielleicht auch das eine Form des Verrats, des sich Abwendens von der Wirklichkeit, von Menschen.

"Paul definierte sich als 'antifaschistischer Mathematiker'. Er war störrisch wie ein Axiom", sagt Maja über ihn.

Und in der Tat steht dieses rätselhafte Genie der glühenden Liebesworte und gelebten Distanz, der Algebra und utopischen Räume ("Heudeber-Flächen"), im Buch wie eine unwiderlegbare Behauptung. Enard scheint diese Figur zu nutzen, um sein immenses Wissen auszubreiten: über die großen Rätsel der Mathematik, die arabische und die deutsche Geschichte, mit allen möglichen Details.

Die Geschichte vom Soldaten, hat Enard erklärt, habe er dem begonnenen Mathematiker-Buch unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs hinzugefügt.

Das Ergebnis ist nun ein literarisches Parallelogramm aus Wissen und Erschrecken. Man lernt viel bei der Lektüre, gewiss, und bewundert den Umfang von Enards sprachlicher Klaviatur. Aber das Buch folgt der Logik eines Essays, bei der die Figuren wie Puppen auf der Bühne bewegt werden, hin- und hergeschoben in einer Versuchsanordnung über den Verrat, die Zeitgeschichte und die Grenzen der Algebra.

Katharina Döbler, rbbKultur