Schmidt-Rottluff - "Römisches Stilleben", 1930 © VG Bild-Kunst, Bonn 2019
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Brücke-Museum und Schinkel Pavillon - Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit

Bewertung:

"Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" ist der Titel eines Episoden-Films von Alexander Kluge, der das Ineinanderwirken der zeitlichen Ebenen von Vergangenheit – insbesondere dem Zweiten Weltkrieg – Gegenwart und Zukunft thematisiert. Jetzt, wo mitten in Europa wieder ein Krieg stattfindet, überschreibt Kluges Filmtitel eine Ausstellungskooperation zwischen dem Brücke-Museum in Zehlendorf und dem Schinkel Pavillon in Mitte, zu Repräsentationszwecken der DDR-Staatsführung errichtet und heute von einem Kunstverein genutzt. An beiden Standorten zeigt die Ausstellung historische und zeitgenössische Werke, die durch Krieg und Unterdrückung geprägt sind.

Ein schräg zugeschnittenes Rechteck, gewebt aus schwarz, weiß, grauer Wolle: Was abstrakt aussieht, war ursprünglich Teil eines monumentalen Bildteppichs von Johanna Schütz-Wolf aus dem Jahr 1928, der eine "Sinnende Frau" zeigte.

Kunst als Zeugnis – Zeugnis als Kunst

Allerding entsprach deren stilisierte Form nicht dem Menschenbild der Nationalsozialisten. Nachdem bereits ein anderes Werk der renommierten Textilkünstlerin beschlagnahmt worden war, zerschnitt Johanna Schütz-Wolf 1938 eigenhändig diesen Bildteppich.

Jetzt ist er eine von zahlreichen Arbeiten, die vor dem Hintergrund von staatlichem Terror - sei es im Nationalsozialismus, sei es unter den Mullahs im Iran oder im Nahen Osten - entstanden sind und die die Kuratorin dieses Ausstellungsprojekts, Katja Inozemtseva, versammelt hat, um zwei zentralen Fragestellungen nachzugehen: Inwiefern kann ein Kunstwerk auch Zeugnis sein und wie wird aus einem Dokument Kunst?

Gegen das Vergessen

Letzteres führt die aus dem Iran stammende Künstlerin Parastou Forouhar vor. Im Brücke-Museum breitet sie zahllose Schreiben, Anfragen und Zeitungsartikel aus (die man auch kopieren und mitnehmen darf), die mit der Ermordung ihrer Regime-kritischen Eltern im Iran im Jahr 1998 zu tun haben. Es sind Zeugnisse einer unablässigen Wahrheitssuche der Tochter, die immer neue Kafkaeske Schleifen hervorbringt: Ein Kunstprojekt gegen das Vergessen.

Nahezu vergessen sind auch eine Reihe von Künstlern und insbesondere Künstlerinnen, die im Brücke-Museum zu entdecken sind. Sie wurden vom NS-Staat verfolgt, ermordet und damit auch ihr Werk nahezu ausgelöscht – so wie im Fall von Elfriede Lohse-Wächtler, die mehrfach in die Psychiatrie eingewiesen, zwangssterilisiert und schließlich 1940 vergast wurde. In eindrucksvollen Bleistiftzeichnungen hielt sie Mitpatientinnen fest, dazwischen aber auch üppige Blumenstillleben. Eine Flucht?

Auffällig ist jedenfalls, dass die Dada-Künstlerin Hannah Höch, die den Nationalsozialismus in ihrer Gartenlaube am Rande Berlins überlebte, im Schinkel-Pavillon ebenfalls mit Bildern zu erleben ist, die das ewige Thema Natur aufgreifen: Anfang der 40er Jahre etwa malt sie eine Berglandschaft – mit spärlich sprießenden, stilisierten Pflanzen und in eher giftigen Farben. Es sei auffällig, meint Katja Inozemtseva, wie sich Repression und Krieg auf die Bildsprache nicht nur Hannah Höchs auswirkten: Ab einem bestimmten Punkt würden sich die Künstler:innen von der Moderne, von neuen Ausdrucksformen abwenden und zu allegorischen oder eher metaphysischen Bildern zurückkehren. Die Moderne, die für den Fortschritt, für das Voranschreiten der Zeit steht, wurde de facto "annulliert".

Bildergalerie

Brücke-Museum u. Schinkel Pavillon: Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit

Der Krieg in den Seelen

Wie die Erfahrung solcher extremen Bedingungen sich ins Bewusstsein der Menschen eingräbt und fortsetzt, dafür steht auch eine Multimedia-Installation des britisch-libanesischen Künstlers Lawrence Abu Hamdan. In "Tagebuch eines Himmels" illustrieren an die Decke des Schinkel-Pavillons projizierte Aufnahmen vom Himmel und das Geräusch israelischer Kampfflugzeuge, die beständig libanesischen Luftraum überfliegen, wie dort unüberhörbar Kontrolle ausgeübt wird. Auch wenn derzeit kein Krieg im Libanon herrscht – diese Dauerpräsenz gräbt sich in die Köpfe und Seelen der Menschen ein, die sie erleben.

Katja Inozemtseva - selbst Russin und eine erfolgreiche Kuratorin in Moskau bis ihr Land die Ukraine überfiel und sie mit ihrem ukrainischen Mann in den Westen flüchtete - vergleicht diese Erfahrung mit der von Ukrainer:innen. Selbst an einem sicheren Ort wie Deutschland genügt ein plötzliches lautes Geräusch, um sie zu Tode zu ängstigen: "Der Krieg hört nie auf."

Das ist tatsächlich, was dieses eindrückliche Ausstellungsprojekt mit seinem Ineinandergreifen moderner und zeitgenössischer Kunst vermittelt: Die ewige Wiederkehr verwandter, schrecklicher Erfahrungen.

Silke Hennig, rbbKultur

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